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Markus Orths
Max
Gebundene Ausgabe: 576 Seiten
Verlag: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
ISBN-13: 978-3446256491
Ein grandioses Buch
„Ich male Bilder, die es nicht gibt, Bilder, wie ich sie aber sehen möchte.“ Leonor Fini
Max Orth malt im vorliegenden Buch eines dieser Bilder, die es so nicht gibt, die man aber als Leser so gerne sehen möchte, voyeuristisch angehaucht vielleicht, zu erlesendes Wissen erhoffend. Der Autor öffnet mit diesem Buch ein Fenster, er zeigt einen Ausschnitt der Welt in einer ausufernden Zeit rund um Max Ernst, aber eben nur einen Ausschnitt, bewusst durch die Begegnungen mit sechs ausgewählten Frauen diesem gewählten Ausschnitt einen Rahmen gebend. Sechs Frauen, sehr junge, exzentrische Frauen, die von Max Ernst ausgesaugt werden teilweise bis zur völligen Zerstörung, bis zum Verfall der eigenen Persönlichkeit. Die eigensinnige und eigenwillige surrealistische Malerin Leonor Fini, die allen Dogmen ablehnend gegenüberstand, begegnete Max Ernst ca. 1937 in Paris und war eine seiner unzähligen Affären, widersetzte sich jedoch aufgrund ihrer Stärke und Selbstbezogenheit erfolgreich dem Sog der Selbstaufgabe und fand bis auf eine winzige Erwähnung keinen Eingang in das Buch.
Wir erleben Max Ernst im Buch nur ganz selten „Auge in Auge“. Wir müssen ihn uns aus den verschiedenen Prismen der sechs Frauen zusammensetzen, und unser Blick auf Max Ernst wird zusätzlich gefärbt von unserem persönlichen Denken, unseren Erfahrungen, unseren moralischen Urteilen. Markus Orth lässt uns die Freiheit, unser eigenes Bild von Max Ernst entstehen zu lassen. Das mag irritieren, da wir gewohnt sind, Festgefügtes zu konsumieren und es als „Wissen“ abzuspeichern. Und genau hier liegt eine der grandiosen Seiten des Buches: Wir vermeinen, nach der Lektüre des Buches mehr über Max Ernst zu wissen, sind aber vielleicht doch nur durch Spiegelbilder verführt worden, unsere eigene Moralvorstellungen anzuschauen. Max Ernst bleibt unfassbar genial, unfassbar groß, unfassbar narzisstisch, unfassbar eben.
Der Autor schreibt an einer Stelle über Bilder von Geisteskranken, dass sich die Werke jeglicher Beurteilung entzogen, „man war vor den Kopf, vor die Seele gestoßen.“ Genauso fühlte ich mich stellenweise beim Lesen dieses unglaublichen Buches: vor den Kopf, vor die Seele gestoßen. Und manchmal steht der Autor selbst da wie der im Buch beschriebene Soldat, der aus dem Schützengraben klettert, einen Stock aufhebt und die um ihn herum fliegenden Granaten dirigiert, wobei der Autor nicht Granaten, sondern Wörter, Wortbilder dirigiert. Geduld braucht der Leser, denn die teils verstörende Sprache, in der über Max und andere erzählt wird, fordert Aufmerksamkeit, Nachspüren, Nachfühlen. Und genau in dieser Sprache liegt die weitere Genialität des Buches. Ein wahnwitziges Leben, eine wahnwitzige Zeit, ein wahnwitziger Künstler – und ein Autor, der eine unglaubliche Fähigkeit besitzt, all diesen Wahnwitz in atemlose Sätze, in surreale Wortbilder, in expressionistische Bildsprache zu packen, sodass nicht nur der Maler Max Ernst in seiner Besessenheit, in vielen Facetten seiner narzisstischen Persönlichkeit vorstellbar sind, sondern auch ein Zeitgemälde entsteht, das plastischer nicht sein könnte. Bei Öffnen des Buches springt uns eine aus den Fugen geratene Welt entgegen, die zu verstehen uns der Autor hilft. Die Welt der Künstler in ihrem Sich-selbst-Genügen, im Abheben in surreales Handeln und Denken. Immer wieder wurde ich beim Lesen auch an Else Lasker-Schüler und ihre intensive expressionistische Sprache erinnert.
Vielleicht macht es Sinn, dieses Buch (mindestens) zweimal zu lesen, beim ersten Lesen Seite um Seite zu „trinken“, einzutauchen und sich bedingungslos dem Rausch der Sprache hinzugeben. Beim zweiten Lesen mag die Sorgfalt dazu kommen, das Genießen, das Wahrnehmen der vielen Details und Schattierungen. Und auch dann haben wir, dessen bin ich sicher, noch lange nicht alle Facetten dieses genialen Buches erfasst…